Geschrieben am 20. Februar 2021.
„Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum“ liest sie, bevor sie das Handy abschaltet und auf den Tisch im Wohnzimmer legt.
„Was ist denn mein Traum“ fragt sie sich, „was soll ich leben?“ Dichter Nebel zieht in ihrem Gehirn seit Monaten umher, manchmal scheint sie keinen Gedanken mehr fassen zu können. Es quält sie bereits so lange, dass sie sich an den Anfang nicht mehr erinnern kann. Alles muss begonnen haben, als in Wuhan ein neues Virus entdeckt wurde, SARS-COV-2. Niemand wusste damals, was noch der Welt bevorsteht, welch gravierende Wendung das bisher bedenkenlos gespielte Spiel der Freiheit und Unbedachtheit nehmen sollte. Schnell änderte sich der Gang freitagabends von dem Besuch der nächsten Party in Hammelsdorf zum Gang aufs Klo. Oder zum Griff nach dem Handy. Zum Umdrehen im Bett oder zum Umschalten des Fernsehsenders. An das Treffen mit vielen Personen war gar nicht mehr zu denken, denn längst wurden die Hoffnungen mit Rationalität restlos ersetzt und das Vokabular hinsichtlich epidemiologischer Fachbegriffe erweitert: Basisreproduktionszahl oder Inzidenzwert klangen bis dato nach Assen beim Galgenraten, doch sind nun Grundlagen des alltäglichen Lebens. Steigen die Werte, wird verschärft, sinken sie, gelockert. So geht das schon über Monate hinweg, ein Katz’ und Maus Spiel.
Sie hievt sich aus dem Sessel und versucht wage einige Schritte zu gehen, ihr Körper erwacht aus der vor Stunden initiierten Trance und Blut schießt durch ihren Hals. Sport hat sie früher schon wenig betrieben, seit Corona ist es noch weniger geworden. Sie bemüht ihre vom Ausruhen müden Muskeln zur Bewegung und schlurft zum Esstisch. Halb zwei, die einzig bedeutsame Tätigkeit ihres aktuellen Lebens kann beginnen: das Essen. Wenigstens hier engagiert sie sich sportlich, beim Heben des Topfes aus dem Schrank oder beim Wasser eingießen in diesen. Was sie kocht, ist nicht länger Gegenstand ihres Überlegens- vielmehr ein Automatismus, denn der Griff in den Kühlschrank ist nicht länger einer Überlegung würdig, seit sich die Varietät des verfügbaren Essens stark verringert hat.
Als es zum zweiten Mal summte, befand sich das Smartphone bereits in ihrer Hand: zwei neue Likes.
Er wohnt erst seit ein paar Wochen in der Gegend, die Großstadt hat ihn hierher vertrieben. Mit leichtem Schritt begutachtet er seine neue Umgebung: triste, geschlossene Läden und Restaurants, ein vergessenes Fahrrad zu seiner linken an der Hauswand lehnend- Er hatte es sich anders vorgestellt, nicht so bedrückend. Seit seiner Ankunft sinnierte er darüber, ob es nicht ein Fehler war, sein Umzug- mitten in der schlimmsten Pandemie, der er zu Lebzeiten sich konfrontiert sähe, da war er sich sicher. Die Maske schürfte an den millimeterlangen Bartstoppeln auf seinem Gesicht, er kratzt sich. Lautlos gleitet ihm beim Heben der Hand sein Buch aus derselben, das dumpfe Platschen hallt aus der Leere des Dorfs wieder. Sein Handy meldet in der Bewegung des Hinunterbeugens die Ankunft einer Nachricht, doch er hört es nicht. Seit seinem Umzug ist es lautlos in seinem Mantel.
Ohne zu merken, dass bereits seit zwanzig Minuten das Wasser in der Küche brodelt und eine beachtliche Menge den Topf als Dampf bereits verlassen hat, steht sie dort und bewegt ihren Finger hektisch auf dem Bildschirm umher.
„Tolles Bild, Eve!“ schreibt ihre Freundin, es sei wunderschön eine andere. Kurze Blitze des Glückes zucken in Form von Dopamin durch ihr Gehirn und Erhellen ihre Laune. Die neue Lebenskraft lässt sie noch schwerer zu Boden sinken. Ihr Körper existiert nur noch für Instagram, ihr Denken ist fokussiert: mehr Likes, Follower.
Wäre sie nur in einer größeren Stadt, denkt sie sich, dann würde sie Reichweite aufbauen können- doch Geld und Corona verbieten ihr diesen Wunsch, wie auch denjenigen, welchen sie seit ihres Kindesalters mit sich trägt: Schauspielerin. In der Qualifikationsphase war sie der Theater-AG beigetreten, darstellendes Spiel durfte auf ihrem Stundenplan natürlich auch nicht fehlen. Mit ihren Freundinnen hatte sie immer die Stunden abgewartet, freitags siebte und achte. Während die anderen meist lustlos und langsam in Richtung der Schulaula trotteten, war sie bereits dort und befand sich auf der Bühne: Impro-Theater war ihre Leidenschaft.
„Irgendein Begriff“ rief sie euphorisch, „Irgendwas!“ und erhielt „Flugzeug“ und „Tomate“ als Antwort. Daraus erschuf sie dann eine Darstellung, nach dessen Vollendung das Publikum entweder heiter klatschte oder der Unlust verfallen, schief auf dem Stuhl sitzend dem Stundenende entgegenfieberte.
Als dann Corona verschuldet der Praxisunterricht untersagt wurde, fiel sie in das Loch, in welchem sie sich heute noch befand.
Zehn vor zwei. „Beeilen muss ich mich, damit ich den Zug um 14:00 schaffe“ schwirrt durch Emmanuels Kopf, als er hastig dem Bahnhof entgegeneilt. Sein Handy hatte er seit seines Aufbrechens noch nicht wieder verwendet.
„Aus der Traum“, „Das war‘s!“, „Als wärst du je davon ausgegangen, dass du es zu einer Schauspielerin in einer Großstadt schaffen würdest!“, „Du hast doch noch nichtmal ein Stück vorspielen können!“, „Abschminken kannst du es dir!“, „Setz‘ dich zurück in den Sessel, da kannst du wenigstens eine Sache gut machen, nämlich sitzen!“, „Schauspielerin, dass ich nicht lache!“, „Wie kommst du denn da jetzt wieder drauf?!“, „Lass‘ gut sein.“, „Dein Leben ist jetzt digital, du wolltest doch immer auf der öffentlichen Bühne stehen!“, „Dein Traum ist jetzt ein anderer!“, „Dein Leben ist jetzt Instagram!“, „Lebe deinen Traum!“, „Lebe Instagram!“.
Um zwei Minuten vor zwei steigt er in den Zug ein. Der Schaffner, mit Maske, grüßt ihn. Nachdem er sich an einem Platz mit Tisch niedergelassen hat, legt er den Sartre auf den Tisch, durchtränkt wie er ist.
„Das schöne Buch“, denkt er sich.
Erneut beweist er sich durch den Versuch des Aufschlagens des Buches Unleserlichkeit. Stattdessen klingelt sein Handy nun laut. Er hatte es umgeschaltet, um Nachrichten seiner Eltern zu empfangen. Ob es seiner Mutter wieder besser geht, ob sie genest, will er nicht verpassen. Er holt es heraus und betrachtet die angekommene Nachricht.
Das Bild ist hochgeladen, ihr Bedürfnis befriedigt. Es befindet sich nun dort, wo es gefunden werden kann und kommt seiner Aufgabe nach: Likes sammeln. Aufmerksamkeit fangen. Reichweite gewinnen. Traum erfüllen. Influencerin werden. Ihren Traum leben. Noch eine Sekunde länger sein. Nicht länger denkt sie, und ist, sondern postet, und hofft zu sein.
Emmanuels Blick durchstreift die ihm fremde Welt des sozialen Onlinelebens. Warum er die App noch installiert hat, weiß er nicht mehr. Sie war noch da, als er seine Bibliothek durchstöberte, auf der Suche nach Zeitvertreib, was ihm sein Buch nicht länger bieten konnte. Nachdem er das Bild seiner Mutter, auf welchem sie trotz künstlicher Atemunterstützung einen Daumen nach oben stolz in die Kamera hält, freudig empfing und selbige ihr unmittelbar in einer Textnachricht mitteilte, war er hier gelandet. Ein neues Bild erscheint auf seiner Startseite, der Anwendung müde lässt er jedoch das Handy sinken.
Dopamin durchströmt ihr Hirn. Der Nebel lichtet sich ein wenig und sie erkennt sich wieder. In den Sessel war sie gestiegen, ohne es zu merken. Ihre Augen schmerzen. Bewusstes blinzeln beseitigte die Trockenheit. Sie legt ihr Handy auf den Tisch und hievt sich aus dem Sessel heraus, unter lautem Protest ihrer Muskeln. Nachdem der Schwindel vorüber ist, geht sie in die Küche. Halb drei. Zeit, das Essen zuzubereiten.
Als er die Tür zum Krankenzimmer öffnet, schlägt sein Herz mit hoher Frequenz. Endlich darf er seine Mutter wieder sehen, wenn auch nur mit großem Abstand und Maske. Die Besucherzeit hatte er gebucht. Die Krankenschwester teilt ihm die verbleibende Zeit mit und er lässt sich auf dem Stuhl gegenüber des Krankenbettes nieder. Die künstliche Beatmungshilfe wurde entfernt, seine Mutter auf dem Weg der Genesung.
Das Like hatte er vorhin noch vergeben, der Hintergrund des Bildes hatte ihm gefallen: Ein Sandstrand mit tollem Sonnenuntergang und vielen Badegästen. Das erinnerte ihn wieder an seine Freundin, als sie das letzte Mal zusammen Urlaub machten.